Das Wunder der Marina
Es ist mir ein liebgewordenes Ritual, jeden Tag bei Signor Gianni vorbeizuschauen, dem Gemüsehändler meines Vertrauens. Sein Laden in der Via Sardegna im Hafenviertel von Cagliari hat keinen Namen, keine Hausnummer, wirkt wie eine schmale, lange Garage und wird nicht von einer Tür verschlossen, sondern nur mit einem losen Gitter.
Fast immer ist es unbequem, dort einzukaufen, weil der Raum sehr schmal ist und meist proppevoll, denn Signor Gianni und seine Geschwister verkaufen die mit großem Abstand beste Ware im Quartier. Zu den Stammkunden zählt auch ein Stoßtrupp energischer Damen, die laut und schnarrend, schrill oder rauchig den ganzen Laden mit ihren Banalitäten auf Trab halten – und gelegentlich als Meisterinnen des Drängelns auch höflichste und geduldigste Menschen auf eine harte Probe stellen.
Nicht immer, aber immer öfter bleibe ich verwundert stehen, wenn ich bei Signor Gianni mittags oder abends vor den Essenszeiten vorbeischaue und sehe, wie Urlauber diesen kurzen, nicht mal 100 Meter langen Abschnitt der Via Sardegna eifrig fotografieren – und sich danach in eines der fast zehn Restaurants, die es allein hier gibt, mit einem Lächeln um die Lippen an kleine Tische unter die Schirme setzen, die fast von beiden Seiten an die Wände der engen, historischen Häuserschlucht stoßen.
Cagliari hat eine komplizierte Geschichte hinter sich. Der Krieg hat viele Lücken hinterlassen, deren Neubebauung sogar dem Charme ostdeutscher Plattenbauten klar unterliegt. Das Marina-Viertel blieb größtenteils verschont. Bis in die 60er-Jahre war hier das wirtschaftliche Zentrum der Stadt – mit zahllosen Handwerkern, Lebensmittel- und Klamottenläden, Schreibwarenhändlern. Je größer aber die Kaufhäuser in der Umgebung wurden, desto mehr verkam der Kiez von Cagliari zu einem Ort des Zerfalls, der bald auch Kriminelle aller Art anzog – und um das alle Cagliartiani, die hier nicht wohnten, einen großen Bogen machten.
Vor zwei Jahren war in der Via Sardegna von Stühlen, Tischen und Sonnenschirmen noch nichts zu sehen, da hier noch Autos langfuhren. Inzwischen aber ist ein guter Teil der Straßen im Marina-Viertel für den Durchgangsverkehr gesperrt. Kinder und Kultur erobern la strada zurück, womit dem Viertel das Tor zu einem neuen Frühling aufgestoßen wurde, der inzwischen das ganze Jahr über dauert.
© by www.sardinienintim.de and Ulf Lüdeke