Die schöne Unbekannte
Die Aprilwolken über Magdeburg hingen grau und schwer am Himmel wie Watte aus Blei an jenem finsteren Frühlingstag Ende der 90er-Jahre, als ich der Dame eines westdeutschen Reisebüros meine Adresse für eine Flugauskunft durchgab. “Alexander-Puschkin-Straße…”, wiederholte ihre Stimme am anderen Ende der Leitung plötzlich misstrauisch, “das war doch auch ein Kommunist, oder…?”.
Während ich mir vorstellte, wie der Nationaldichter und Begründer der modernen russischen Literatur sich im fernen Sankt Petersburg in seinem Grab stöhnend umdrehte, ahnte ich noch nicht, dass meine Reise in Sardiniens Hauptstadt auf dem besten Wege war, eine Odyssee zu werden. “Also… ich könnte Ihnen eine Verbindung ab Frankfurt am Main anbieten, Abflug 11 Uhr, Ankunft Amsterdam: 12.15 Uhr, Abflug Amsterdam um 18 Uhr, Ankunft Calgary um 21.30 Uhr am selben Tag…”
Nicht gänzlich auszuschließen, dass Cagliari selbst anderthalb Jahrzehnte später selbst bei deutschen Fußballfans noch immer bekannter ist als in anderen Interessengruppen – dank des ersten und einzigen scudetto, wie hier die Meisterschaft der höchsten Spielklasse Serie A heißt, die der gerade mal wieder abstiegsbedrohte Club Cagliari Calcio im Jahr 1970 gewann.
Dabei gibt es keine einzige andere Großstadt im gesamten Mittelmeerraum, die so viel zu bieten hat wie Cagliari: karibisches Meerfeeling direkt vor der Haustür, eine mittelalterliche Altstadt, wo die Einheimischen fast noch immer unter sich sind und eine Kulturszene, die Besucher selbst vom italienischen Festland anzieht.
Cagliari ist das Aschenputtel des Mittelmeers. Eine Stadt mit gigantischem Potenzial. Ein Ort der verschenkten Möglichkeiten. Hier schlägt die Dickköpfigkeit der sardischen Seele manchmal stärker durch als in den einsamsten Regionen der Barbagia, hat der Nepotismus mafiöse Ausmaße angenommen, dauert ein vielversprechendes Projekt selten länger als eine Legislaturperiode oder geht über eine Straße hinaus.
Doch Cagliari ist auch die Hoffnung für eine neue Zukunft der Insel. Es gibt zahllose historische Gebäude, die von zivilen und militärischen Behörden in den vergangen Jahren freigezogen worden sind und nun der Stadt zur Nutzung überlassen werden. Salinen um die Stadt herum, in denen Europas größte Flamingokolonie lebt. Eine kerngesunde agrarische Landschaft, die seit dem Mittelalter unverändert ist. Und ein Panorama vom Hügel des Castello-Viertels über den Golfo degli Angeli, den “Golf der Engel”, der seinesgleichen sucht.
Blogautor Ulf Lüdeke, der seit Jahren in Cagliari lebt, hat Impressionen in einer Rundfunk-Reportage zusammengefasst, die am Sonntag, 15. Februar 2015 ab 11.30 Uhr im Deutschlandfunk beim “Sonntagsspaziergang” gesendet wurden. Verpasst? Kein Problem: